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Richard Nordeschenko war unbemerkt ins Gericht gelangt. Es war nicht schwierig gewesen, von Reichardt eine Standardbenachrichtigung für Geschworene zu bekommen und Datum und Namen an seine Bedürfnisse anzupassen. Mit diesem Schreiben hatte er sich in die Reihe der mürrisch aussehenden Geschworenen gestellt und, als wäre es die normalste Sache der Welt, das Gericht durch den Vordereingang betreten.
Eine Zeit lang saß er in dem überfüllten Geschworenenzimmer, wo er eine Zeitschrift durchblätterte und auf die Nummern lauschte, die aufgerufen wurden. Viele der Anwesenden plapperten nervös über Was-wäre-wenn-Szenarien – wenn sie für Cavellos Prozess ausgewählt wurden. Alle glaubten, sie hätten eine idiotensichere Entschuldigung.
Nordeschenko kicherte leise in sich hinein.
Niemand von ihnen würde eine Entschuldigung brauchen.
Um Viertel nach zehn blickte er auf seine Uhr. Nezzi würde mit dem
gestohlenen Cateringwagen in die Tiefgarage fahren. Was solche
Dinge anging, gab es keinen Besseren als Nezzi. Doch man wusste
nie, was bei einem solchen Auftrag alles schiefgehen konnte,
besonders wenn er so komplex war wie dieser.
Am Abend zuvor hatte Nordeschenko einen langen Brief an seine Frau
und seinen Sohn geschrieben. Er hatte ihn in seinem Hotelzimmer
liegen lassen, falls er nicht mehr dorthin zurückkehrte.
Im Brief hatte er zugegeben, nicht unbedingt der gute Mensch zu
sein, für den sie ihn immer hielten, und dass die Dinge, die ihnen
über ihn zu Ohren kommen konnten, möglicherweise stimmten. Er hatte
geschrieben, es habe ihn traurig gemacht, in all den Jahren so viel
vor ihnen geheim halten zu müssen. Doch keiner sei in seinem Leben
nur gut oder nur schlecht. Das Gute in seinem Leben seien seine
Frau und sein Sohn. Er liebe sie beide sehr. Er hatte versucht, den
Brief mit einem Witz darüber zu beenden, dass sein Sohn ganz nach
dem Vater schlage, weil er Poker mittlerweile lieber spiele als
Schach.
Und unterschrieben hatte er mit »Euer Euch liebender Ehemann und
Vater, Kolya Remlikov«.
Mit Nordeschenkos richtigem Namen.
Einem Namen, den beide nicht kannten.
Um genau 11:40 Uhr legte er seine Zeitschrift zur Seite und ging in
den zweiten Stock hinauf, wo vor allem das Verwaltungspersonal saß.
Er betrat die Herrentoilette, die neben den Fahrstühlen lag. Ein
kräftiger Schwarzer mit einem dicken Leberfleck auf der Wange wusch
sich gerade die Hände. Nordeschenko ließ das Wasser laufen und
wartete.
Als der Schwarze gegangen war, nahm Nordeschenko die Abdeckung des
Müllbehälters ab und kramte in den zusammengeknüllten
Papierhandtüchern nach dem sorgfältig verpackten Päckchen, das er
dort, wie er wusste, finden würde. Ha, da war es, genau wie
Reichardt gesagt hatte.
Nordeschenko trat in eine Kabine und wickelte das Päckchen auf:
eine 9 mm Heckler und Koch, seine Lieblingswaffe. Nachdem er
nachgesehen hatte, ob das Magazin voll war, schraubte er den
Schalldämpfer auf.
Er wusste, dass der neue Richter ein Pedant war, was Regeln anging,
und das Gericht immer kurz vor halb eins in die Mittagspause
entließ. Es hieß, dass die Anwälte darauf achteten, um diese
Uhrzeit keine wichtigen Themen mehr anzuschneiden.
Nur noch ein paar Minuten.
Aus seiner Tasche zog Nordeschenko ein winziges Mobiltelefon
heraus. An der Sicherheitskontrolle hatte er wie alle anderen auch
eins vorgezeigt, aber ein anderes. Dieses hier hatte er versteckt.
Keine Nachrichten. Das hieß, Nezzi war weg und alles
vorbereitet.
Er prüfte den Code, der alles in Gang setzen würde. Jetzt brauchte
er nur noch die Senden-Taste zu drücken.
Nordeschenko verließ die Kabine und warf einen letzten Blick in den
Spiegel. Sein rasendes Herz begann, sich wieder zu beruhigen.
Remi, immer mit der Ruhe. Du weißt, wie die
Menschen reagieren werden. Du kennst die menschliche Natur besser
als sonst jemand. Das Überraschungsmoment ist auf deiner Seite.
Genauso wie schon ein Dutzend Mal vorher. Die Dinge werden sich
entwickeln wie geplant.
Mit seinen frisch gefärbten Haaren, dem falschen Bart und der
Brille kam ihm der Gedanke, dass er in den nächsten Minuten genauso
sterben könnte, wie er es immer befürchtet hatte: unerkannt. Mit
dem Namen eines anderen. Die Fingerabdrücke würden überprüft
werden, aber selbst dann führte die Spur ins Leere. Nur ein
Sergeant der russischen Armee, ein Deserteur. Es könnte Wochen oder
Monate dauern, bis jemand von seinem Tod erfahren würde.
Natürlich musste Nordeschenko darüber lächeln, schließlich konnte
er genauso gut überleben. Er entsicherte die Heckler und schob sie
in seine Tasche.
Es war, als würde er sein ganzes Geld in die Mitte des Tisches
schieben. In diesem Fall seinen Lohn in Höhe von zweieinhalb
Millionen Dollar.
Sicher war man erst, wenn man die letzte Karte umdrehte.